Bei der Frage nach der Ursache für autistische Verhaltensweisen kann man den Schwerpunkt auch auf Funktionen des Gehirns richten, z. B. wie autistisch Behinderte sich selbst und Umweltreize
wahrnehmen. Intensive Forschung und inzwischen auch Eigenaussagen von Betroffenen zu diesem Thema machen deutlich, dass gravierende Störungen in der Wahrnehmungsverarbeitung vorliegen.
Körper- und Sinnesbereich
In allen Sinnesbereichen, d. h. in der basalen Wahrnehmung (d. h. die Wahrnehmung des Körpers über Gleichgewicht, Haut, Muskeln und Gelenke), im Sehen, Hören, Riechen und Schmecken können innerhalb
jedes einzelnen Sinnes Über- und Unterempfindlichkeiten auftreten.
Auf der nächsten Ebene ist die Verarbeitung von Außenreizen gestört, besonders das Zusammen- führen von Information aus verschiedenen Sinneskanälen (intermodale Verarbeitung). So kann es vorkommen,
dass Sehreize sich gleichzeitig auf das Hören auswirken und umgekehrt, oder dass kein Gesamtbild der Sinneseindrücke entsteht u. a. m. Es gibt viele autistische Menschen, die unter Lärmeinwirkung in
den anderen Sinneskanälen beeinträchtigt sind.
Auch das Unterscheiden zwischen wesentlichen und unwesentlichen Reizen (Reizselektivität), welches das normal entwickelte Gehirn ständig vornimmt, um uns vor einer Reizüberflutung zu schützen, fällt
autistischen Menschen schwer..
Denken, Gedächtnis und andere Funktionen
Bei autistischen Menschen bestehen Schwierigkeiten in der Aufrechterhaltung eines gleichmäßigen Erregungsniveaus. Dies ist für ein effektives Arbeiten des Gehirns notwendig, gerade bei Prozessen, die
Aufmerksamkeit und Konzentration verlangen.
Es können wohl auch Probleme in Gedächtnisprozessen bestehen (Übergang vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis), sowie in der Ansteuerung der Willkürmotorik.
Soziale Wahrnehmung
Die Forschergruppe um UTA FRITH hat sich die Frage gestellt, was das Eigentliche, das Typische im Erleben autistischer Menschen ist. Die Frage lautete: "Gibt es einen gemeinsam zugrunde liegenden
Mechanismus, der zu Autismus führt?"
Das Puzzle der Defizite autistischer Menschen wurde immer vollständiger. Dabei gab es auch autistische Menschen, die ihre Andersartigkeit erkannten. Zu dem britischen Neurologen RUTTER kam z.B.
einmal ein autistischer Jugendlicher und meinte: "Herr Rutter, ich möchte jetzt auch Gedankenlesen lernen. Wenn Menschen sich unterhalten, so können sie dabei doch offensichtlich Gedanken lesen!" Was
dieser Jugendliche spürte war, dass er kein Gefühl hatte dafür, was während des Gespräches im anderen vor sich geht.
Solche Defizite hat man in einigen einfachen, aber verblüffenden Experimenten mit jüngeren Kindern festgestellt und mit Aussagen festgehalten wie:
Gesunde Menschen können intuitiv andere Menschen einschätzen, sie können erspüren, was im anderen Menschen gerade vor sich geht, bzw. Hypothesen bilden über deren Innenwelt.
So wie es abstrakte Begriffe gibt wie Liebe und Vertrauen, die nicht mehr einem konkreten Gegenstand zuzuordnen sind, aber trotzdem irgendwie in unserem Gehirn repräsentiert sind, so speichern wir zu
sozialen Situationen auch abstrakte Aspekte ab, wie Meinungen, Überzeugungen, Einstellungen, Emotionalität, usw.
Autistischen Menschen fehlt der Mechanismus, das, was andere glauben könnten, aufzunehmen, zu repräsentieren. Sie verfügen über keine "Theorie der psychischen Welt" Deshalb können sie nicht
nachvollziehen, wie Verhalten aus bestimmten mentalen Zuständen resultiert, und auch nicht begreifen, wie sich Überzeugungen und Einstellungen manipulieren lassen; deshalb fällt es ihnen schwer zu
verstehen, was Täuschung und Betrug ist.
Neben dem zentralen Begriff "Theorie der psychischen Welt", der im angloamerikanischen Sprachgebrauch mit" theory of mind" umschrieben wird, gibt es noch einen zweiten zentralen Begriff bei UTA
FRITH, den Begriff der "Kohärenzschwäche ": Personen mit Autismus können nur schwer verschiedene Informationen und Erfahrungen kombinieren, um die Bedeutung eines Zusammenhanges zu erkennen. Sie
verstricken sich oft in Details und verlieren den Blick für das Ganze. Es ist, als ob autistischen Menschen eine große integrative Kraft fehle - der innere Drang, Sinn und Kohärenz in allen
Erscheinungen zu suchen.
Gibt es einen neuropsychologischen Hintergrund für den Mangel, sich in andere Menschen hineinversetzen zu können (gedanklich und emotional)?
Im Jahre 1996 erfolgte bei der Untersuchung von Affen (Gallese et al.) Zitat4 ein wesentlicher Erkenntnisgewinn zur Arbeitsweise des Gehirns: Isst ein Affe eine Nuss oder schaut er einem anderen
Affen zu, der eine Nuss ist, es feuert die gleiche Klasse an Nervenzellen, die so genannten Spiegelneuronen, die z.B. im präfrontalen Kortex zu finden sind.
Das Gehirn hat demnach eine Möglichkeit sich allein durch Beobachtung zu aktivieren und die beobachtete Situation nachzuvollziehen. Auf den Menschen übertragen ist ein Zusammenhang mit der Fähigkeit
zur Imitation und schließlich zur Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, plausibel. Sehe ich jemanden essen, so läuft mir selbst der Speichel im Mund zusammen. Sehe ich, wie sich
jemand schneidet, so scheint es, als würde ich den Schnitt selbst spüren. Geht dies auf ganz grundlegende Fähigkeiten des Gehirns zurück?
Liegt bei autistischen Menschen eine Dysfunktion des Spiegelneuronensystems vor – und solche Hinweise gibt es – so könnte damit z.B. das Defizit an Imitaion und schließlich auch der Mangel an
Empathie erklärt werden.
In der Forschung zum Thema Autismus ist deutlich geworden: Autismus oder autistisches Verhalten entsteht im Zusammenhang mit einer Wahrnehmungs- und Wahrnehmungsverarbeitungsstörung, die eine
neurologische Grundlage hat. Viele Jahre hielt man Autismus für eine rein psychogene Störung, d. h. als psychisch verursacht. Die Hypothese lautete, dass Erfahrungen und Erlebnisse eines zunächst
gesunden Kindes zum autistischen Rückzug führten.
Dieser psychogene Standpunkt wurde zumindest teilweise durch die Tatsache gestützt, dass mit den damaligen Methoden der Hirnforschung bei den Betroffenen keine neurologischen Probleme nachzuweisen
waren. Darüber hinaus sahen autistische Kinder in der Regel gesund und ansprechend, oft hübsch aus. Also musste es einfach psychische Hintergründe geben!
Mit dieser Hypothese rückten sofort die Eltern als wichtigste Erfahrungsquelle für das Kind ins Blickfeld. Unterschwellige oder auch direkte Schuldzuweisungen waren die Folge. Einer empirischen
Prüfung hielt die Position vom psychogen verursachten Autismus nicht stand: Man hat erfolglos versucht, im Erziehungsstil und in der Persönlichkeit der Eltern Besonderheiten festzustellen.
Gleichzeitig fand man seit den 70-er Jahren bei den autistischen Kindern und Jugendlichen immer mehr neurologische Auffälligkeiten, das Zitat von Prof. Dr. MARTIN SCHMIDT (s.o.) stellt somit das
Fazit aus den vielen Jahren Autismusforschung dar. Es bleibt anzumerken, dass, wie bei anderen Kindern auch, Umweltbedingungen wie kritische oder positive Lebensereignisse, Traumatisierungen,
Erziehung u.a.m. natürlich einen Einfluss auf die Entwicklung autistischer Menschen haben.
Durch die Entwicklung der letzten Jahre und die Mitwirkung der ersten Generation von Eltern können jüngere Eltern inzwischen auf ein ganz anderes Verständnis treffen, als dies früher der Fall war.
Und Verständnis allein kann schon viel bewirken.
Die Forschungsergebnisse der Gruppe um UTA FRITH helfen, autistische Menschen zu verstehen, und gerade bei diesen Ergebnissen ist es an uns, uns in autistische Menschen hineinzuversetzen. Wir dürfen
es nicht von ihnen erwarten, nicht weil sie nicht wollen, sondern weil sie nicht können.